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Boston. Drei Nächte später.
Das Hauptquartier des Ordens kam Nikolai völlig verändert vor, als er aus dem Techniklabor, wo er sich mit den anderen Kriegern getroffen hatte, den Korridor hinunterging. Die Mission, Dragos aufzuhalten, hatte vor einigen Nächten einen empfindlichen Rückschlag erlitten, aber dafür waren sie beim Versuch, ihn zu finden und seinen Machenschaften ein Ende zu bereiten, auf einen äußerst unerwarteten Verbündeten gestoßen.
Während sich der Jäger immer mehr als wertvoller Zugewinn erwies, hatte der Orden unglücklicherweise einen anderen wichtigen Verbündeten und guten Freund verloren: Andreas Reichen war von der Bildfläche verschwunden, und aus Berlin waren die schlimmsten Neuigkeiten zu hören.
Niemand wusste, ob der Leiter des Dunklen Hafens von Berlin den Anschlag auf sein Anwesen überlebt hatte. Da offenbar all seine Verwandten ermordet worden waren und ein Großbrand das gesamte Anwesen zerstört hatte, blieb dem Orden wenig Hoffnung, dass ihr Freund noch am Leben war.
Nikolai dachte, dass es für Reichen eine Gnade sein musste, wenn auch er bei dem Überfall umgekommen war. Er konnte sich nicht vorstellen, wie man einen solchen Verlust verkraften konnte. Niemand, weder Vampir noch Mensch, konnte so stark sein, dass er aus einem solch brutalen Schicksalsschlag unversehrt hervorging. Als Krieger verstand Nikolai, dass es im Kampf immer Opfer gab. Jeder Krieger, der zur Schlacht aufbrach, war sich im Klaren darüber, dass er oder seine Brüder vielleicht nie mehr zurückkehrten. Aber seine Familie zu verlieren . .
Was das für Qualen sein mussten, wollte er sich nicht einmal vorzustellen versuchen. Stattdessen konzentrierte Nikolai sich auf alles, womit er gesegnet war - eine seiner Segnungen konnte er gerade leise reden hören, als er sich der offen stehenden Tür seines Privatquartiers näherte.
Drinnen saß Renata auf der Wohnzimmercouch und las Mira vor.
Als Niko die Eingangstür erreichte, lehnte er sich einen Augenblick lang gegen den Türrahmen, einfach nur, um zuzuhören und um seine Augen an der umwerfenden Frau zu weiden, die nun seine Gefährtin war. Er fand es wunderbar, dass Renata sich mit einem Buch gemütlich auf der Couch zusammenrollen konnte und sich dabei genauso wohlzufühlen schien wie mit einer Waffe in der Faust. Sie besaß eine Weichheit, die er bewunderte, eine Intelligenz, die ihn ständig herausforderte, und eine innere Kraft, die ihn danach streben ließ, der Mann zu sein, der ihrer Hingabe wert war.
Dass sie zufällig noch verdammt sexy war, schadete auch nicht. Und das war sie besonders dann, wenn sie den Lauf einer großen .9mm entlangstarrte oder mit ihren geliebten Klingen trainierte. In den letzten paar Tagen waren Kade und Brock im Waffenraum praktisch zum lebenden Inventar geworden, nur um eine Chance auf ein Sparring mit Renata zu bekommen oder sie in Aktion zu erleben. Das konnte Nikolai ihnen kaum vorwerfen. Aber schon beim leisesten Anflug von Eifersucht genügte ein Seitenblick seiner Frau, um ihn zu beruhigen. Sie liebte ihn, und dafür hielt Nikolai sich für den glücklichsten Mistkerl auf diesem Planeten.
„Hi", sagte sie jetzt und sah zu ihm hinüber, als sie die letzte Seite eines Kapitels umblätterte und innehielt, um ihn zu begrüßen.
„Hi, Niko", piepste Mira hinter ihrem kurzen Schleier hervor. „Du hast gerade das Beste verpasst."
„Habe ich das? Vielleicht kann ich Renata überreden, es mir später noch mal vorzulesen", sagte er und warf seiner Gefährtin beim Eintreten einen erhitzten Blick aus schmalen Augen zu. Er ging zur Couch hinüber und ging vor Mira in die Hocke. „Ich hab was für dich."
„Echt?" Ihr winziges Gesichtchen hellte sich mit einem Lächeln auf. „Was denn?"
„Etwas, worum ich Gideon für dich gebeten habe. Nimm deinen Schleier ab, dann zeig ich's dir."
Renatas besorgter Blick entging ihm nicht, als Mira sich den schwarzen Stoff vom Gesicht riss. „Was ist das?"
„Ist schon in Ordnung", sagte er und nahm einen kleinen Plastikbehälter aus der Tasche seiner Jeans. „Du kannst mir vertrauen. Ihr beide könnt mir vertrauen."
Renata entspannte sich wieder und sah zu, wie Nikolai den Deckel von einem Kontaktlinsenbehälter schraubte.
„Das hier sind Speziallinsen. Gideon denkt, dass sie deinen Augen guttun werden. Wie würde es dir gefallen, wenn du nie mehr diesen Schleier tragen müsstest?"
Mira nickte begeistert. „Lass mich gucken, Niko!"
„Was sind das für Linsen?", fragte Renata mit verhaltener Hoffnung.
„Undurchsichtige Linsen, um den Spiegeleffekt von Miras Augen abzuschirmen. Sie wird normal damit sehen können, aber keinem, der sie ansieht, wird irgendwas Ungewöhnliches an ihren Augen auffallen. Ihre Iris wird vollständig abgedeckt, genauso wie bisher von ihrem Schleier. Ich dachte, die hier wären die bessere Lösung."
Renata nickte und lächelte ihn voll Wärme an. „Viel besser. Danke dir."
„Kann ich sie ausprobieren?", fragte Mira und spähte begierig nach dem kleinen Plastikbehälter in Nikos Hand.
„Schau mal, Rennie, die sind lila!"
„Das ist deine Lieblingsfarbe", sagte sie und warf Nikolai einen fragenden Blick zu.
Er hatte sich in den letzten paar Tagen über eine Menge Dinge schlau gemacht und eine Rolle übernommen, die er sich nie hätte vorstellen können. Geschweige denn, dass er sich darin so wohlfühlen würde. Er war ein Stammesvampir, der eine Blutsverbindung eingegangen war mit einer Stammesgefährtin, die ihn liebte, und einem kleinen Kind, das sie aufziehen würden wie ihr eigenes. Und er genoss den Gedanken an beides.
Er, der verwegene, waghalsige Außenseiter, hatte jetzt seine eigene Familie. Es war unglaublich für ihn, vom Rest des Hauptquartiers ganz zu schweigen. Es war das Letzte, was er je gewollt oder gebraucht hatte, und nun, bereits nach wenigen Tagen, konnte er sich das Leben gar nicht mehr anders vorstellen.
Sein Herz war noch nie so voll gewesen.
„Komm, ich mach das", sagte Renata, nahm ihm die Linsen ab und zeigte Mira vorsichtig, wie man sie einsetzen musste. Als sie schon mehrere lange Sekunden saßen und von der Gabe des Kindes nichts zu sehen war, lachte Renata leise hinter vorgehaltener Hand. „Oh mein Gott. Es funktioniert, Nikolai. Schau sie dir an. Die Linsen funktionieren wunderbar."
Er sah in die großen violetten Seen von Miras veränderten Augen, und sah ... gar nichts. Nur den glücklichen, sorglosen Blick eines Kindes.
Renata warf ihre Arme um seinen Hals und küsste ihn.
Mira war direkt hinter ihr, und Niko umfing sie beide in einer innigen Umarmung.
„Ich hab noch mehr", sagte er und hoffte, dass auch der Rest seiner Überraschung so gut ankommen würde. Er stand auf und nahm beide an der Hand. „Kommt doch mal mit."
Er führte sie den Korridor entlang zum Lift, der vom unterirdischen Hauptquartier zu dem weitläufigen Herrenhaus hinaufführte, das darüber lag. Er konnte Renatas Anspannung in ihrem lockeren Griff spüren und in dem plötzlichen Adrenalinstoß, der in ihren Blutkreislaut schoss.
„Keine Sorge", flüsterte er an ihrem Ohr. „Es wird dir gefallen, das verspreche ich dir."
Zumindest hoffte er, dass es ihr gefallen würde. Er hatte die letzten anderthalb Tage daran gearbeitet, um alles so hinzukriegen, wie es sein musste. Er führte Renata und Mira in das Herz des Anwesens, zu dem von warmem Kerzenschein erleuchteten Esszimmer. Die Düfte von frisch gebackenem Brot und gebratenem Fleisch drangen heraus, um sie zu begrüßen. Niko selbst konnte menschlicher Nahrung nichts abgewinnen, aber die Stammesgefährtinnen, die im Hauptquartier lebten, umso mehr. Und so wie sie ihn jetzt ansahen, auch die beiden Frauen an seiner Seite.
Renatas Augen glänzten vor Verblüffung. „Du hast Abendessen gemacht?"
„Himmel, nein. Glaub mir, ich bin der Letzte, von dem du dir dein Essen kochen lassen willst. Aber ich hatte noch was gut bei Savannah, Gabrielle und den anderen Frauen. Eure Mägen sind hier in besten Händen."
„Aber ich war doch vorhin mit ihnen allen zusammen, und keine hat uns was davon gesagt."
„Ich wollte euch überraschen. Sie wollten euch auch überraschen."
Sie sagte nichts weiter, und er bemerkte, dass Renatas Schritte langsamer wurden, je näher sie dem Esszimmer kamen. Aber Mira platzte fast vor Aufregung. Sobald sie den gewölbten Durchgang erreicht hatten, riss sie sich von Nikos Hand los, rannte in die Gruppe und quasselte munter drauflos, als hätte sie schon ihr ganzes Leben hier verbracht.
Aber nicht Renata.
Sie blieb stumm und reglos. Sie warf einen Blick in den Raum, auf die Tafel voller Schüsseln und feinem Porzellangeschirr und holte flach Atem. Sie sagte nichts, als sie in die Gesichter der Krieger und ihrer Gefährtinnen blickte, jedes Augenpaar sah ihr willkommen heißend entgegen, als sie mit Nikolai in der Tür stand.
„Oh Gott", flüsterte sie schließlich, ihre Stimme klang rau und gebrochen.
Niko folgte ihr, als sie zurückwich und sich im Gang umdrehte, als wollte sie die Flucht ergreifen.
Verdammt. Er war sich doch so sicher gewesen, dass ihr ein nettes Abendessen mit all den anderen gefallen würde, aber offenbar lag er da falsch.
Als sie sprach, war ihre Summe erstickt vor Gefühl. „Die warten hier alle ... auf uns?"
„Mach dir da mal keinen Kopf, sagte er und zog sie in seine Arme. „Ich wollte eben was Besonderes für dich veranstalten, und ich hab's vermasselt. Tut mir leid. Du musst da nicht rein ..."
„Nikolai." Sie sah zu ihm auf, und in ihren Augen glitzerten Tränen. „Ich habe noch nie was Schöneres gesehen als diesen Tisch da drin, mit allen darum versammelt."
Er runzelte die Stirn, nun verdutzt. „Aber was hast du dann? Was stimmt nicht?"
Sie schüttelte den Kopf und schluckte ein ersticktes Lachen. „Gar nichts. Das ist es doch. Es ist einfach perfekt.
Ich bin nur so glücklich. Du hast mich so vollkommen glücklich gemacht. Ich habe Angst, dieses Gefühl festzuhalten. Ich habe nie gewusst, wie es sich anfühlt, und ich habe eine Heidenangst, dass das alles nur ein Traum ist."
„Kein Traum", sagte er sanft und strich ihr eine verirrte Träne von der Wange. „Und du kannst dich an mir festhalten, wenn du Angst hast. Ich bin jetzt hier an deiner Seite, so lange du mich haben willst."
„Für immer", sagte sie und strahlte zu ihm auf.
Nikolai nickte. „Ja, meine Liebste. Für immer."
In Renata stieg ein frohes Lachen auf. Sie küsste ihn leidenschaftlich, dann schmiegte sie sich an seine Seite, unter seinen schützenden Arm, und ging mit ihm hinüber zu den anderen - dem Rest ihrer Familie.
Ende